Rechtsgutachten: „Grundschulabitur“ in Bayern ist verfassungswidrig

Rechtsgutachten: „Grundschulabitur“ in Bayern ist verfassungswidrig

02. September 2016

SPD-Bildungsexperte Güll: Eltern müssen frei über Schullaufbahn entscheiden dürfen

Das sogenannte „Grundschulabitur“ in Bayern, also die verbindliche Übertrittsempfehlung fürs Gymnasium oder die Realschule aufgrund eines Notendurchschnitts aus drei Fächern, ist einem Rechtsgutachten zufolge verfassungswidrig. Der Wissenschaftliche Direktor des Instituts für Bildungsrecht und Bildungsforschung an der Ruhr Universität Bochum, Prof. Dr. Wolfram Cremer, stellt fest, dass diese Praxis an bayerischen Schulen gegen die Grundrechte der Eltern in der Bayerischen Verfassung (Art. 126 Abs. 1) und im Grundgesetz (Art. 6 Abs. 2 S. 1) verstößt. „Die Entscheidung über den Bildungsweg des Kindes liegt eindeutig bei den Eltern“, betont Cremer und beruft sich dabei auf das Bundesverfassungsgericht. (Rechtsgutachten - Kurzfassung)

Prof. Wolfram Cremer
Prof. Wolfram Cremer
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Der Vorsitzende des Bildungsausschusses des Bayerischen Landtags, Martin Güll, will das Grundschulabitur, das ausschließlich auf den Noten der Kinder in den Fächern Deutsch, Mathematik sowie Heimat- und Sachunterricht in der 4. Klasse beruht, deshalb abschaffen. Der SPD-Bildungsexperte und frühere Schulleiter warnt: „Das Grundschulabitur sorgt für unfassbaren Stress in den Familien. Das Ergebnis lautet: Lernen in ständiger Angst statt Freude am Unterricht. Zudem zeigen wissenschaftliche Studien, dass Kinder aus sozial schwächeren Familien bei gleichen Testleistungen eine deutlich geringere Chance haben, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu erhalten, als Kinder aus bildungsnahen, sozial starken Familien.“

Das bestätigt auch der renommierte Bildungs- und Verfassungsrechtler Cremer. Er berichtet in dem von der SPD-Landtagsfraktion in Auftrag gegebenen Gutachten (Langfassung) davon, dass Lehrkräfte in Gesprächen immer wieder einräumen, dass sie potentiellen Auseinandersetzungen mit ehrgeizigeren Eltern über eine bevorstehende Übergangsempfehlung dadurch ausweichen, dass sie im Vorhinein den jeweiligen Kindern einfach bessere Noten geben.

Nach Einschätzung Cremers ist auch die bestehende Möglichkeit, Kinder in den dreitägigen Probeunterricht am Gymnasium beziehungsweise an der Realschule zu schicken, wenn sie den geforderten Notenschnitt nicht erreicht haben, kein Argument für das Grundschulabitur. „In der Regel schaffen über die Hälfte der Kinder diesen Probeunterricht, obwohl ihre Grundschulnoten eigentlich zu schlecht für das Gymnasium waren. Das zeigt, wie wenig diese Noten wert sind. Und auch hier gibt es wieder soziale Ungerechtigkeiten, da nur wenige Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Schichten überhaupt den Probeunterricht versuchen.“

Die SPD-Landtagsfraktion fordert deshalb schon seit Jahren, an die Stelle der verbindlichen Übertrittsempfehlung eine unverbindliche Grundschulempfehlung verbunden mit einer professionellen Beratung, gegebenenfalls auch durch die weiterführenden Schulen, einzuführen, damit die Eltern schlussendlich eigenverantwortlich über den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder entscheiden können. Güll fordert deshalb Kultusminister Spaenle zum Beginn des neuen Schuljahres auf, das Übertrittsverfahren umgehend neu zu regeln: „Die Grundschule hat einen pädagogischen Auftrag, keinen Sortierauftrag. Die Lernfreude muss im Vordergrund stehen und nicht der Notenstress.“ Im Übrigen sei die Verteilung auf verschiedene Bildungswege im Alter von neun oder zehn Jahren ohnehin viel zu früh. „Besser ist es, Kinder länger gemeinsam lernen zu lassen, etwa bis zur 10. Klasse wie in den Gemeinschaftsschulen. Dann hätten wir das Übertrittsproblem nicht“, fasst der SPD-Bildungsexperte Güll zusammen.

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